victorian 1837 – 1901 | VIKTORIANISCH

Victorian Style ist ein Sammelbegriff für mehrere historisierende Strömungen im englischen Kunsthandwerk des 19. Jahrhunderts. Die Regierungszeit Königin Viktorias von England, 1837 – 1901, ist der zeitliche Rahmen für den Viktorianischen Stil, der in drei Stufen unterteilt wird: Die Epoche des Early Victorian von 1830 -1860, das High Victorian zwischen 1860 und 1885, sowie das Late Victorian, das bis zur Jahrhundertwende reicht. Der Viktorianische Stil , in dem verschiedene Neostile wie Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Barock oder Old French Style – angelehnt an den Louis Quinze Stil wird er auch Victorian Rococo genannt- miteinander konkurrieren oder kombiniert werden, zielt verstärkt auf dekorative Wirkung und lehnt die strenge Formensprache des Klassiszismus ab.

Königin Viktoria – Namensgeberin der Stilrichtung – ist über 60 Jahre Herrscherin und repräsentative Instanz Englands. In ihre Regentschaftszeit fällt ab 1837 – 1901 der Aufstieg Großbritanniens zur führenden Welt- und Wirtschaftsmacht. Ende des 19. Jahrhunderts ist das britische Empire das größte Herrschergebiet, das es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hat. Trotz Fortschritt hält sie wie kein anderer an Tradition und Konvention fest. 1840 heiratet sie Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, einen Unterstützer von Reformen. Beide sind Liebhaber von Kunst. Schmuck spielt eine große, symbolische oft auch romantisch sentimentale Rolle. Prinz Albert ist Initiator und Mitplaner der ersten Weltausstellung 1851 mit 17000 Ausstellern – eine internationale Leistungsschau auf den Gebieten Technik und Kultur – die in London stattfindet.

 

Mehrere historisierende Strömungen der Kunst in England, Schottland und Irland werden als Viktorianischer Stil bezeichnet, der in mehrere Phasen aufgeteilt wird. Unterschieden wird in Early Victorian oder Romantic Period von 1837-1860, Mid-Victorian oder Grand Period von 1860 – 1885 und Late Victorian oder Aesthetic Period von 1885 – 1900. Gleichzeitig gibt es innerhalb dieser Perioden diverse Neostile und Neuerungen. Keine Strömung wird ausgelassen. Von 1840 – 1875 gibt es beispielsweise eine Old French Style-Phase, Viktorianisches Rokoko genannt. Gerade in England sind genügend Vorbilder französischen Diamantschmucks des 18. Jahrhunderts vorhanden, verkauft von den vor der Revolution geflohenen Adeligen. Außerdem sinken die Preise für Diamanten, da in Südafrika 1867 neue Fundorte erschlossen werden. Bevorzugter Hofjuwelier ist ab 1843 Robert Garrard (1793 – 1881), sein Diamant- und Edelsteinschmuck ist tonangebend, die Verarbeitung mustergültig. Er pflegt und fertigt die englischen Kronjuwelen. Prinzgemahl Albert entwirft selbst Schmuckstücke für seine Frau, die Garrard und Bapst in Paris ausführen. Berühmt ist die Saphir- und Diamantbrosche als Hochzeitsgeschenk, wie auch eine Parüre mit Orangenblüten aus Gold, Email und Porzellan. Der bedeutendste Vertreter des Gothic Revival ist August Welby Pugin (1812 – 1852). Gotische Rosetten und „Heftlein“ sind lange im Angebot englischer Goldschmiede. Ein bedeutender Juwelier der Gesellschaft ist Charles Frederick Hancock (gest. 1891). Nach altem Vorbild, im Stil der Elisabethanischen Zeit, fasst er die berühmte Gemmensammlung des Herzogs von Devonshire.
Ab 1860 liefert er kleine Kristallcabouchons mit geschnittenen und hinterlegten Bildchen, die große Beliebtheit als Manschettenknöpfe oder Nadel erlangen. Nachbildungen keltischer Schmuckstücke kommen nach Ausgrabungen in England in Mode, nachdem sie auf der großen Ausstellung 1851 präsentiert werden: Bronzene Ringfibeln mit ornamentalen Flechtbandreliefs in Niello und aufgesetzten Steinen sind es, die als Kopien der Firmen West und Waterhouse in Dublin in Umlauf kommen. Eine zeitlang ahmt diesen irischen Schmuck sogar die Firma Carl Weißhaupt in München nach.

Königin Viktoria sammelt schottischen Schmuck: Flexible Armbänder und Emailbroschen in Clanfarben, meist aus Silber mit Halbedelsteinen wie Quarz, Karneol, Achat und Jaspis. Damit unterstützt sie die relativ neu geschaffene Volkstracht und bedient den Nationalismus.
Der weltberühmte „Kohinoor“ Diamant gelangt in den Besitz der Englischen Königin, die ihn 1852 in Amsterdam umschleifen lässt und als Brosche montiert trägt.
Berühmte namhafte Diamanten wie der Hope, der Stern des Südens oder der Jubilee kommen aus Indien, Brasilien und Südafrika. 1860 eröffnet die italienische Firma Castellani eine Niederlassung in London und präsentiert sich 1862 auf der Weltausstellung. Der Besatz ihrer goldenen Schmuckstücke mit Sandkorn feinen Goldkügelchen und Castellanis Annäherung an antiken Schmuck, machen Furore. „Graeco-etruscan“ hat auch die Firma Robert Philipps im Angebot, die ebenfalls italienische Goldschmiede beschäftigt. Castellanis Manager ist Carlo Giuliano (1831 – 1895), wohl der namhafteste italienische Goldschmied in England, der sich später selbständig macht und nach Vorlagen der Renaissance und berühmter englischer Maler arbeitet. Auch John Brogden, 1851 ausgezeichnet für die Kopie eines getriebenen Goldarmbands mit Relieffries nach Funden in Ninive, greift den Neoklassizismus der Firma Castellani auf.

Francois Auguste Mariettes Ausgrabungen in Ägypten und die Gründung des Ägyptischen Museums in Kairo lösen obendrein in England großes Interesse und eine orientalische Modewelle, ein Egyptian Revival aus.
Eine exzeptionelle Sonderausstellung antiker ägyptischer Schmuckstücke wird 1862 auf der Londoner Weltausstellung präsentiert. Seitdem werden Ohrringe mit Türkisen getragen, Broschen mit Gehängen aus Ketten und Quasten versehen oder als Knoten geformt. Ägyptische Gottheiten oder Lotusblüten schmücken Kolliers und Armbänder. Eine Gothic-Revival-Bewegung macht sich verstärkt, unter dem Einfluss der Präraffaelien um den Maler Edward Burne-Jones, in der spätviktorianischen Phase (1875 – 1901), in allen Kunstgattungen breit. Andererseits ist bereits der englische Jugendstil spürbar, mit fernöstlichem Formenschatz, chinesischem Gitterwerk, Bambusmotiven sowie japanischen Lacken.

 

Königin Viktoria setzt Trends: Über Zeitungen und Magazine verbreiten sich Kleider und Juwelen der Königin und werden im gesamten Empire vielfach kopiert. Als 1861 der Prinzgemahl Albert stirbt, wird in England rigide die Hof- und Staatstrauer zur allgemeinen Verpflichtung. Im Mid-Victorian wird Schmuck, Mourning Jewelry- gravitätisch und schwer, mit dunklen Steinen wie Jett, Onyx, Amethyst oder Granat besetzt. Schwere Ketten und Armbänder mit großen Verschlüssen kommen wieder auf. Nahezu 20 Jahre zieht sich die Witwe aus der Öffentlichkeit zurück. Zeitlebens trägt sie nur noch Schwarz. Der Bedarf an Trauerschmuck – überwiegend aus Jett angefertigt – steigt in erheblichem Umfang. Das nicht wirklich edle kohleartige Material kommt aus der Küstengegend um Whitby, nach der Jettschmuck auch benannt wird. Leicht zu bearbeiten, erhält es in poliertem Zustand einen samtartigen Schimmer. Auch weniger wohlhabende Kreise können sich Jettschmuck leisten. So wird aus dem ursprünglichen Gedenkschmuck ein erster Modeschmuck.

Schmaler, feiner, whimsical und weniger formell wird Schmuck in der viktorianischen Spätphase, in der Art Nouveau, Jugendstil, Arts & Crafts wie auch Edwardian Style zusammenfallen. Einige Motive sind besonders beliebt wie Sterne, Mondsicheln, Vögel, Klauen, Insekten oder Eidechsen, häufig übersäät mit Diamanten als beliebtester Edelstein.