historism 1848 - 1900 | HISTORISMUS

Historismus bezeichnet einen Stilpluralismus, der sich in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts in allen Bereichen der bildenden Kunst wie des Kunstgewerbes durchsetzt. Er zeigt alle bedeutenden Stile der Vergangenheit: Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko – teilweise sogar vermischt in ein und demselben Objekt. Formelemente und Ornamentik aus europäischen Kunstepochen werden zu etwas Neuem zusammengefügt, was eine Reihe so genannter Neostile hervorbringt. Zum Ende des Jahrhunderts kommen noch orientalische und exotische Vorlagen hinzu.

 

 

Das Phänomen des Historismus wird als ein nationales Geschichtsbewusstsein auf der Suche nach einer neuen Identität in der Folge der napoleonischen Befreiungskriege und der 1848er Revolutionen gedeutet. Der Begriff Historismus bezeichnet den Stilpluralismus, den Rückgriff auf ältere Stile in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Anschluss an das Biedermeier. Durch die Verwendung früherer Stilformen entstehen eine Reihe so genannter Neostile wie Neogotik, Neorenaissance, Neobarock oder Neorokoko. In England entwickelt sich mit dem Viktorianischen Stil ein Historismus eigener Prägung. In Frankreich entspricht das Second Empire oder Napoléon III. dem Historismus.

Historismus ist nicht die einzige, aber doch die beherrschende künstlerische Erscheinung des 19. Jahrhunderts in ganz Europa. Historisierende Elemente gibt es in vielen Epochen, im Sinne einer Orientierung an älteren Vorbildern zur Erneuerung sind sie vom Frühmittelalter bis zum 18. Jahrhundert gebräuchlich. Den besonderen Charakter des Historismus im 19. Jahrhundert aber macht die Vielfalt seiner Stilorientierung aus – die ganze Bandbreite der Geschichte dient der Orientierung und wird wild gemischt. Dazu kommt noch die nationale Differenzierung um geistige Orientierung wie nationale Identität zu schaffen, oder um symbolisch Reichtum und neue Macht zu demonstrieren. Der geschichtliche Rückblick ist dazu bestimmt, für die Gegenwart richtungsweisend zu wirken. Historismus ist damit ein europäisches Phänomen, das auf die neue Situation von Staat und Gesellschaft antwortet: Wirtschaftlicher Aufschwung, erstarktes Bürgertum, neue Monarchien nach den Revolutionen von 1848. Allen europäischen Ländern – egal ob Frankreich, Deutschland, Österreich, Belgien, Italien oder Polen – gemeinsam ist das nationale Bewusstsein und das Streben, aus der Geschichte die Identität der Gegenwart zu gewinnen. Nationaltrachten wie Schottenrock oder Dirndl werden kreiert. Theoretische Schriften von Viollet-le-Duc oder Gottfried Semper, historisierende Romane eines Sir Walter Scott, die Gründung Historischer Vereine, oder von Nationalmuseen und vieles mehr, tragen zur künstlerischen Entwicklung bei.

 

Die Weltausstellungen, beginnend 1851 im Crystal Palace in London, sind einzigartige Zeugnisse dieses neuen Denkens und Vergleichens technischer und künstlerischer Neuerungen. Gleichzeitig fördern sie die Auseinandersetzung mit und Übernahme vieler Elemente der anderen, fremden, exotischen Kulturen: Indien oder der Orient, Japan und China, die Südsee oder Afrika – ein Formenschatz unbegrenzter Möglichkeiten tut sich auf.

Die Schmuckproduktion profitiert von einer neuen Konsumentenschicht: Noveau riche sucht Traditionelles, Adel setzt dem Großbürgertum Altes entgegen. Neue Techniken ermöglichen schnellere und kostengünstigere Herstellungsmethoden, neue Rohstoffe und -quellen werden entdeckt, modische Tendenzen wechseln immer schneller. Noch nie war die Auswahl an Schmuckformen und – stilen so groß.

 

 

Historismus in Italien

In Italien erreicht um die Jahrhundertmitte Korallen- und Lavaschnitzerei – als beliebte Souvenirs wohlhabender Reisender – ihren Höhepunkt. 1873 berichtet man von der Wiener Weltausstellung, dass sich das Schmuckangebot verbessert hat. Zu verdanken ist das Fortunato Pio Castellani (1793 – 1865) und seinen Söhnen. Sie kopieren antike Schmuckoriginale und fertigen neue Kreationen in der Art der alten Technik der Granulation – die tatsächlich von den Etruskern angewandte Schmelztechnik beherrschten sie jedoch nie -, verwenden Gemmen, Kameen, ägyptische Skarabäen und Mikromosaik. Edelsteine werden nicht verwendet. Castellani fertigt ein vielseitiges Angebot antikisierenden Schmucks: Blattkränze nach griechischem Vorbild, Fibeln, Ohrgehänge Halsketten aus gewebtem Goldrand mit dicht an dicht gereihten Anhängern in Tropfen-, Nadel-, Kugel- oder gar Amphorenform. Die Vorbilder für viele Objekte finden sich heute in diversen Antikenmuseen zwischen Neapel und London. Manche sind exakt kopiert, viele frei übersetzt. Ihnen folgt fast die gesamte italienische Goldschmiedeindustrie mit antikisierenden griechischen, römischen und etruskischen Formen. Nachahmer sind Giacinto Mellilo, Bellezza oder Twerembold. Vor allem in Turin und Genua wird antikisierender Filigranschmuck fabrikmäßig hergestellt. Keiner erreicht die Perfektion der Werkstatt Castellani, etwa bei Mosaikdekors, die mit ganz dünnen Goldstreifen umgeben sind, so dass die Wirkung eines besonders feinen Zellenschmelzemails entsteht.

 

 

Historismus in Deutschland/Österreich
Reaktionszeit, Gründerzeit und Kaiserreich

Der konjunkturelle Aufschwung der deutschen Wirtschaft beginnt in den 1860er Jahren und mündet nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 in einem regelrechten Wirtschaftsboom im neuen Kaiserreich. Mit den Reparationszahlungen Frankreichs stehen große Summen zur Verfügung. Das wachsende deutsche Nationalbewusstsein nach der Reichsgründung und die beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinne der Gründerzeit beeinflussen die bürgerliche Kultur stark. In seinem aufwendigen, repräsentativen Lebensstil orientiert sich das industrielle Bürgertum verstärkt an der alten Elite wie auch an vergangenen Stilen. Altdeutsch, ein Konglomerat aus Neorenaissance und Neobarock, hält sich bis ins 20. Jahrhundert. Neben der vom kaiserlichen Hof geförderten historisierenden Kunst gewinnen Sezessionen und Avantgarde um die Jahrhundertwende an Bedeutung. Repräsentative Formen mit viel Zierrat sind in der Gründerzeit beliebt und gelten traditionsgemäß als wertvoll. Zeitgenossen kritisieren dies als „Schmörkel-Inflation“.

In Deutschland wie in Österreich wird für den Hof vorrangig traditioneller Diamantenschmuck im französischen Stil des 18. Jahrhunderts hergestellt. An den internationalen Ruf französischer Hofjuweliere ragt kein österreichischer oder deutscher Goldschmied der Zeit heran. Antikisierender Stil kann sich im deutschsprachigen Raum nicht breit durchsetzen. Daneben finden sich Neo-Renaissance-Schmuckstücke, überladen im Dekor: Geschlitzte und mit Edelsteinen besetzte Rollwerkornamente, mit Noppen besetzte Bogenelemente, verziert mit emaillierten Blüten nebst Puttenkopf: Farbe wird wieder als Gestaltungsmittel in die Schmuckkunst einbezogen, Buntheit durch verschiedene Emailtechniken und der Verwendung von Farbsteinen betont. In den 1860/70er Jahren entstehen sorgfältig gearbeitete, farbenfreudige Colliers, Broschen und Armreifen, teilweise als Kopien von Originalen des 16. Jahrhunderts aus dem Dresdner Grünen Gewölbe, wie auch der Münchner Schatzkammer.
Neben Berlin und München sind Wien und Prag Zentren der Juwelierkunst.
Alexander Köchert (1824 – 1879) betreut seit 1860 als Hof- und Kammerjuwelier die Kronjuwelen und die Schatzkammer in Wien. Berühmt sind die Diamantensterne, die Kaiser Franz Joseph I. bei ihm 1885 zum ersten Hochzeitstag mit Kaiserin Elisabeth in Auftrag gibt. Er stellt auf der Wiener Weltausstellung 1873 Diamant- und Perlenschmuck im Stil der Neorenaissance aus und erhält die Goldene Medaille. Nachdem Wiener Kunsthistoriker um 1875 den Renaissancestil als den für die Kunstgewerbereform vorbildlichsten ansehen, werden vermehrt Entwürfe Hans Holbein des Jüngeren kopiert und rezipiert, etwa vom Wiener Juwelier August Kleeberg. Getriebene und ziselierte Neorenaissance-Parüren nach architektonisch ornamentalen Vorbildern mit antikisierenden Grisailleszenen in Email sind zum Ausgang des Jahrhunderts sehr begehrt. In Prag spielt unabhängig von den internationalen Stilphasen des Historismus die Granantverarbeitung eine Rolle. Eine wichtige Inspirationsquelle ist auch der Volksschmuck mit Filigranarbeiten.